Wie der Verstand arbeitet

"Hunderttausende Wissenschaftler können sich doch nicht alle so geirrt haben!"

Wenn man sich die Geschichte der Menschheit ansieht, wird man feststellen, dass genau das alle naselang geschieht. Die Geschichte ist eine Abfolge kollektiver Irrtümer, die früher oder später von Erkenntnis durchbrochen wurden. Warum ist das so?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns anschauen, wie der rationale Verstand arbeitet:

Der Verstand wird auch als "rationaler Verstand" bezeichnet, weil er "rational" arbeitet. Das bedeutet, seine Funktion basiert auf "Ideen" als Grundelement. Eine Idee greift einzelne Elemente der Realität heraus und setzt sie zueinander in Beziehung. Das ist der Vorgang der "Rationalisierung". Ideen dienen zur Beschreibung der Realität. Der Verstand erschafft ein rationales Abbild der Realität auf der Grundlage von Ideen. Da die Realität beliebig komplex ist und der Verstand aber nur eine begrenzte Komplexität verarbeiten kann, beinhaltet die Rationalisierung zwangsläufig eine Vereinfachung. Die rationalen Abbilder sind deshalb immer nur Annäherungen an die Realität, die mehr oder weniger gut mit der Realität übereinstimmen. Das Ziel des Verstandes besteht nun darin, rationale Abbilder der Realität zu erschaffen, die der Realität möglichst nahe kommen bzw. die möglichst gut mit der Realität übereinstimmen. Deshalb braucht der Verstand ein Kriterium dafür, wann eine Idee mit der Realität übereinstimmt - also "wahr" ist - und wann nicht. In der wissenschaftlichen Herangehensweise bildet der wissenschaftliche Beweis dieses Kriterium. Ich hatte in meinen Ausführungen einen anderen Wahrheitsbegriff vorgeschlagen, nämlich "Funktion": "Wahr ist, was für den Menschen tatsächlich funktioniert, was ihn also seine Probleme lösen und seine Ziele erreichen lässt."

Die Summe aller Ideen darüber, wie die Welt aufgebaut ist und wie sie funktioniert, bildet "die Weltsicht".

Ideen können durch "Schlussfolgerungen" miteinander verknüpft werden. Diesen Vorgang bezeichnet man als "Denken". Die Regeln für gültige Schlussfolgerungen werden durch die "Logik" definiert. Auf diese Weise entsteht ein weiteres Kriterium für den Wahrheitsgehalt von Ideen: "Eine Idee ist wahr, wenn sie aus anderen Ideen, die auch wahr sind, geschlussfolgert werden kann."

Wir haben also jetzt 2 Kriterien für den Wahrheitsgehalt von Ideen:

  1. ihre Übereinstimmung mit der Realität
  2. die Schlussfolgerung aus anderen Ideen, die wahr sind

Dadurch kann es zu Widersprüchen kommen, wenn nämlich das eine Wahrheitskriterium sagt "Die Idee ist wahr" und das andere Wahrheitskriterium "Die Idee ist nicht wahr". Je nachdem, welches Wahrheitskriterium sagt "ist wahr" und welches "ist nicht wahr", gibt es 2 Arten von Widersprüchen:

  1. Eine Idee, die im logischen Kontext der Weltsicht wahr ist, die also aus anderen "wahren" Ideen geschlussfolgert werden kann, bildet einen Widerspruch zur Realität. Das heißt, sie stimmt nicht mit der Realität überein.
  2. Eine Idee, die mit der Realität übereinstimmt, bildet einen logischen Widerspruch innerhalb der Weltsicht.

Die Aufgabe des Verstandes ist es nun, eine Weltsicht aufzubauen, die frei von Widersprüchen beider Arten ist, die also sowohl mit der Realität möglichst übereinstimmt, als auch im logischen Sinne "in sich" widerspruchsfrei ist. Das ist eine gigantische Mammutaufgabe (die auch noch nicht zufriedenstellend gelöst ist, sonst bräuchte es Texte wie diesen nicht).

Falls man annimmt, dass diese Aufgabe überhaupt lösbar ist, dann können die Fehler, welche die Widersprüche verursachen, an drei Stellen liegen. Zwei davon sind offensichtlich:

  1. Der Vorgang der Rationalisierung, also die Bildung von Ideen als Beschreibung der Realität basiert auf der Wahrnehmung der Realität. Potentielle Fehlerquelle Nummer 1 ist also die Wahrnehmung.
  2. Die Ableitung einer Idee als wahr aus anderen wahren Ideen basiert auf Schlussfolgerungen. Potentielle Fehlerquelle Nummer 2 sind dementsprechend die Schlussfolgerungen.

Nun zu Fehlerquelle Nummer 3: Wenn Ideen durch Schlussfolgerungen miteinander verknüpft sind, dann kann man zu jeder beliebigen Idee die Frage stellen: "Aus welchen anderen Ideen folgt diese Idee?" Wenn man diese Ideen gefunden hat, kann man wieder die Frage stellen: "Aus welchen Ideen folgen diese Ideen?" usw. Auf diese Weise kann man sich in der Weltsicht immer tiefer arbeiten, bis man irgendwann auf Ideen stößt, die aus keinen anderen Ideen mehr durch Schlussfolgerungen hergeleitet werden können. Das sind die Grundideen einer Weltsicht. (Sie sind vergleichbar mit den Axiomen in der Mathematik.)

Die Grundideen sind die Eckpfeiler einer Weltsicht. Sie spannen eine Art "Ideenraum" auf. Alle Ideen, die aus den Grundideen geschlussfolgert werden können, sind automatisch Teil der Weltsicht. Darüber hinaus werden einer Weltsicht Ideen hinzugefügt, die als Resultat der Erforschung der Realität entstehen. Auf diesem Wege können aber nur solche Ideen in die Weltsicht aufgenommen werden, die zu den Grundideen keinen Widerspruch bilden. Die Wahl der Grundideen bestimmt, welche Ideen in der Weltsicht als wahr akzeptiert werden können und welche nicht. Die Wahl der Grundideen kann dazu führen, dass bestimmte Ideen innerhalb der Weltsicht nicht als wahr akzeptiert werden können, die eigentlich benötigt würden, um die Realität adäquat zu beschreiben. Das bedeutet dann, dass die Weltsicht einen Teil der Realität nicht abdeckt. Wenn das der Fall ist, können bestimmte Arten von Problemen nicht gelöst und bestimmte Ziele nicht erreicht werden. Fehlerquelle Nummer 3 sind also Grundideen der Weltsicht, welche die Realität entweder nicht vollständig abdecken oder die sogar zur Realität im Widerspruch stehen.

Die Weltsicht dient einem bestimmten Zweck. Sie ist ein Werkzeug des Verstandes, um seine Hauptaufgabe zu erfüllen: Entscheidungen über das "richtige" Verhalten zu treffen. Die Weltsicht selbst enthält aber zunächst noch keine Ideen dazu. Die Weltsicht beschreibt das Verhalten und die Funktion der den Menschen umgebenden Welt. Um seine Hauptaufgabe zu erfüllen, benötigt der Verstand aber Ideen, die sich mit dem "eigenen Verhalten" befassen. Es braucht also zusätzlich zur "Weltsicht" noch eine zweite Art von Ideen im Verstand und das sind die "Konzepte". Während die Weltsicht das Verhalten der "Welt" beschreibt, beschreiben die Konzepte das eigene Verhalten. Konzepte ordnen einer bestimmten Situation ein bestimmtes Verhalten zu. Ein Konzept ist demzufolge eine spezifische Art von Idee mit folgendem einfachen Grundaufbau:

Situation X => Verhalten Y

Aber wie entstehen die Konzepte? Wie die Weltsicht entsteht ist klar: Die Welt wird mit Hilfe der Wahrnehmung erforscht. Teilweise geschieht das ganz bewusst nach Antworten suchend und teilweise werden mehr oder weniger bewusste Beobachtungen einfach spontan der Weltsicht hinzugefügt. Aber wie entstehen die Konzepte?

Konzepte entstehen auf 2 Wegen, einem eher bewussten Weg und einem eher unbewussten Weg. Der eher bewusste Weg ist die Ableitung von Konzepten aus der Weltsicht. Das heißt, Konzepte werden aus Ideen der Weltsicht geschlussfolgert: "Wenn die Welt sich so und so verhält, dann muss ich mich so und so verhalten, um mit meinem Verhalten erfolgreich zu sein." Dieser Weg der Konzeptbildung erscheint klar und selbstverständlich. Darüber hinaus gibt es aber noch einen zweiten Weg, der zu einem großen Teil unterbewusst abläuft:

Der Verstand analysiert permanent das eigene Verhalten und bewertet es auf seinen Erfolg hin. Wenn ein Verhalten als erfolgreich identifiziert wurde, versucht der Verstand sowohl Situation als auch Verhalten in ihren jeweiligen erfolgsbestimmenden Parametern zu erfassen, um daraus ganz direkt ein Konzept abzuleiten:
Situation X => Verhalten Y

Das Ziel dieser Vorgehensweise ist es, erfolgreiche Verhaltensweisen wiederholen zu können. Ob das gelingt, hängt entscheidend davon ab, wie Situation und Verhalten "rationalisiert" wurden, das heißt, wie sie mit ihren Parametern erfasst und in einer Idee - dem Konzept - abgebildet wurden.

nächstes Kapitel: Das Dilemma der rationalen Isolation (Kollektive Irrtümer)